Die Internationale Vereinigung der Völkermordforscher deklarierte in einer Resolution von 2007 das Verbrechen gegen die griechisch-orthodoxe Minderheit im Osmanischen Reich (1914-1923) als Völkermord (lat./gr. Genozid). Welche Verbrechen sind begangen worden, die diese Deklaration rechtfertigen?
Tessa Hofmann: Da Genozid ein Verbrechen darstellt – und zwar das ultimate bzw. größte aller Verbrechen - sollte und muss seine Definition juristisch erfolgen. Es gibt bisher nur eine rechtsverbindliche Definition, und das ist die der Vereinten Nationen, die am 9. Dezember 1948 eine „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verabschiedeten. Artikel 2 dieser UN-Konvention zählt fünf Straftatbestände auf, die jeder für sich allein genommen bereits Völkermord darstellen. Im Wortlaut der Konvention heißt es:
„Artikel II: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“
Mit Ausnahme von der Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung – etwa Zwangssterilisation – sind alle vier übrigen Straftatbestände im Zeitraum von 1912 bis 1922 vorsätzlich an christlichen Bürgern des Osmanisches Reiches begangen worden, einschließlich jener griechisch-orthodoxer Religionszugehörigkeit bzw. griechischer Ethnizität. Der Autor der UN-Konvention, der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin (1900-1959) hat seiner Definition empirisch die Erfahrungen des osmanischen Genozids an Christen im Ersten Weltkrieg sowie der Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg zugrunde gelegt. Wer sich mit der Biographie und den Gedanken des „Vaters der UN-Konvention“ auseinandersetzt, wird feststellen, dass dieser auch historisch sehr gebildete Mann durchaus nicht nur den Genozid an den osmanischen Armeniern im Blick hatte, sondern ebenso die an den osmanischen Griechen begangenen Verbrechen.
Bereits am 11. Dezember 1946 hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine von Lemkin entworfene Resolution verabschiedet, in der er Genozid als „Verneinung des Existenzrechts ganzer menschlicher Gruppen“ definiert hatte; den politisch-rechtlichen Anlass für diese Resolution bildete der Umstand, dass bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen zahlreiche in der Tschechoslowakei, Polen, Deutschland und anderen Staaten begangenen Verbrechen nicht geahndet werden konnten, sondern lediglich Massaker strafrechtlich erfasst wurden. Für Lemkin bestand die Feststellung von Völkermord nicht in erster Linie im Leichenzählen, sondern im Verschwinden unterscheidbarer ethnischer, religiöser oder nationaler Kollektive. In seinem Werk „Axis Rule in Occupied Europe“ (1944) schrieb er entsprechend:
„Unter ‚Genozid‘ verstehen wir die Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe.
(…) Allgemein gesprochen, bedeutet Genozid nicht notwendigerweise die sofortige Zerstörung einer Nation, außer wenn er durch Massentötungen aller Angehörigen einer Nation vollführt wird. Er bezeichnet eher einen koordinierten Plan verschiedener Handlungen, die auf die
Zerstörung der Lebensgrundlagen nationaler Gruppen abzielen, mit dem Ziel, die Gruppen selbst zu vernichten.
Die Ziele eines derartigen Plans wären die Auflösung der politischen und sozialen Einrichtungen, der Kultur, Sprachen, Nationalgefühle, Religion und der wirtschaftlichen Existenz nationaler Gruppen, sowie die Zerstörung der persönlichen Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar des Lebens der Individuen, die solchen Gruppen angehören. Genozid richtet sich gegen die nationale Gruppe als Wesenheit, und die angewendeten Handlungen richten sich gegen die Individuen nicht in ihren individuellen Eigenschaften, sondern als Angehörige der nationalen gruppe. […]
Genozid erfolgt in zwei Phasen: Die eine ist die Zerstörung des nationalen Modells der unterdrückten Gruppe; die zweite die Auferlegung des nationalen Modells des Unterdrückers. Die Auferlegung wiederum kann sich auf die unterdrückte Bevölkerung beziehen, der zu bleiben gestattet wurde, oder nur auf das Territorium, nach Entfernung der Bevölkerung und der Kolonisierung des Gebiets durch die eigenen Staatsangehörigen des Unterdrückers.“
Mit den osmanischen Griechen und ganz besonders mit den Griechen des Pontos gab es tatsächlich ein Bündel sich gegenseitig ergänzender destruktiver Staatsmaßnahmen, um die numerisch größte christliche Ethnie des Osmanischen Reiches zu vernichten.
Dazu gehörten in den Anfangsstadien beispielsweise Wirtschaftsboykotte und Steuerrepressionen zur Vernichtung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen. Der Lausanner Vertrag erlaubte zwar jenen osmanischen Griechen, die zum Islam übergetreten waren, den Verbleib in der bald republikanischen Türkei, allerdings um den hohen Preis der vollständigen Verleugnung ihrer bisherigen ethnischen und religiösen Identität.
Wie das Zitat aus der UN-Völkermordkonvention belegt, geht es bei der Feststellung von Genozid wesentlich um den Nachweis der Vorsätzlichkeit dieses Verbrechens. Genau dies bestreitet allerdings die offizielle Türkei bis heute auf das Hartnäckigste.
Doch die politischen Wortführer des jungtürkischen Nationalistenregimes haben seit ihrer Machtergreifung 1908 und besonders seit den Parteitagen von 1910 und 1911
a) die Notwendigkeit der ethnischen und religiösen Vereinheitlichung – sprich Türkisierung und Islamisierung – des Osmanischen Reiches als zentrale Aufgabe zur Stabilisierung des zerfallenden Reiches proklamiert und dafür Zwangsassimilation, Deportation und Zersiedelung zusammenhängender ethnischer Gebiete als probate Mittel proklamiert,
notfalls bis zur physischen Zerstörung von nicht assimilierbar bzw. türkisierbar befundenen ethno-religiösen Gruppen; zu diesen gehörten in erster Linie die indigenen Christen, die Anfang des 20. Jhs. immerhin noch ein Viertel der osmanischen Bevölkerung in den anatolischen und nordmesopotamischen Kerngebieten des Reiches stellten.
b) Zweitens galten spätestens seit den Balkankriegen von 1912/13 gerade die osmanischen Griechen als „innere Feinde“ bzw., im pseudowissenschaftlichen Jargon der Völkermörder, als „interne Tumore“. Völkermörder argumentieren, dass sie präventiv handeln.
Aus Sicht der Jungtürken erschien die gründliche und dauerhafte Entfernung der griechischen Tumore als patriotisches Gebot.
Schon im Juni 1909 drohte der osmanische Oberbefehlshaber Mahmut Şevket dem Ökumenischen Patriarchen wegen der angeblich irredentistischen griechischen Bewegung: „Wir werden euch alle vernichten! Entweder werden wir untergehen oder ihr!“ Die türkische Nationalistin und Frauenrechtlerin Halide Edib erwähnte in ihren Memoiren (1926), dass die Türken nach den Balkankriegen das Gefühl ergriff, dass sie „andere vernichten mussten, um nicht selbst vernichtet zu werden.“ [3]
Monate vor dem osmanischen Kriegseintritt an der Seite Deutschlands (14.11.1914) nannte Regierungschef (Großwesir) Said Halim die „gänzliche Entfernung der griechischen Bevölkerung von der kleinasiatischen Küste“ als Ziel und verkündete am 5. März 1915, dass nun „das kleinasiatische Litoral seine griechische Bevölkerung im Wesentlichen verloren habe.“ Anfang Juni 1915 erklärte der osmanische Innenminister Mehmet Talaat gegenüber der deutschen Botschaft zu Konstantinopel, dass seine Regierung „den Weltkrieg dazu benutzen wolle, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslands gestört zu werden.“ Diesen Beispielen lassen sich andere hinzufügen.
Teilen Sie die Ansicht, dass die Deportationen und Verfolgungen an pontischen Griechen, wie der britische Historiker Mark Mazower [4] behauptet: „nicht dazu entworfen wurden, um zum Tod „ihrer Opfer“ zu führen?“
Tesa Hofmann: Seine Behauptung steht im kompletten Widerspruch zu den angeführten Beispielen jungtürkischer Vernichtungsandrohungen seit 1909 (vgl. Artikel 1). Also entweder hält man diese Drohungen für bloße Rhetorik, was angesichts der späteren genozidalen Ereignisse eine befremdliche Naivität darstellen würde, oder M. Mazowers Behauptung beruht auf einer ebenso befremdlichen Unkenntnis. Sie scheint sich noch mit einem Rechtsirrtum zu paaren, denn Deportationen werden inzwischen völkerrechtlich als Verbrechen gegen die Menschheit bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit [5] geahndet, gleichgültig, ob sie zum Tod vieler, weniger oder keiner Deportierten führen. Herr Mazower möge das 1998 verabschiedete „Römer Statut“ nachlesen, das die Geschäftsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) bildet; Artikel 7 (1) d nennt „Deportation oder Zwangsumsiedlung“ als eines von insgesamt elf Verbrechen gegen die Menschlichkeit [6]. Es scheint aber unter Historikern ein verbreiteter Irrglaube zu herrschen, dass Deportationen im Vergleich zu Massakern oder anderen Formen direkter Tötung eine Bagatelle darstellen.
Die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen, noch dazu unter Kriegsbedingungen, tendiert häufig dazu, in Genozid zu münden, insbesondere, wenn die Betroffenen absichtlich unter den denkbar ungünstigsten Umständen deportiert werden. Wer Menschen aller Altersgruppen, Kranke, Sieche, Schwangere und Wöchnerinnen inbegriffen, im Hochsommer zu Fuß in Wüstengebiete treibt oder mitten im Winter über vereiste Gebirgspässe, ohne ihnen ausreichend Erholung, Nahrung und sichere Unterkunft zu bieten, der nimmt zumindest billigend in Kauf, dass zahlreiche Menschen sterben, und zwar einen qualvollen, langsamen Erschöpfungstod. Es handelte sich also faktisch um Todesmärsche. Das erste Beispiel betrifft die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reiches, das zweite die pontosgriechische.
Wie viele Menschen sind bei diesen Todesmärschen umgekommen?
Tesa Hofmann: Was die Zahlen betrifft, so wurden bei den Deportationen in Ostthrakien vor und während des Ersten Weltkrieges an die 323.000 Griechen – fast die gesamte griechische Bevölkerung der Region von insgesamt etwa 350.000 – deportiert, davon etwa ein Drittel – 100.000 Menschen – nach Zentralanatolien bzw. Kleinasien. Die Gesamtzahl der während des Ersten Weltkrieges deportierten Griechen im Osmanischen Reich beläuft sich nach unterschiedlichen Angaben auf 500.000 bis 773.859 Griechen. Legt man eine griechisch-orthodoxe Gesamtbevölkerung (türk. Rum milet-i) von 2.5 Mio. Menschen zugrunde, wäre jeder fünfte bis jeder dritte osmanische Grieche im Ersten Weltkrieg deportiert worden. Bei einer Zugrundelegung von 3 Mio. griechisch-orthodoxer Bevölkerung und 773.859 Deportierten liegt das Verhältnis bei etwa einem Viertel, bei 500.000 Deportierten immerhin noch bei einem Sechstel. Derartige Anteile von 16,7% bis 33% an einer Bevölkerungsgruppe kann man nicht, wie Herr Mazower, als „relatively small scale“ abtun [vgl. 4]. Hinzu kommt, dass es sich bei den Deportationen im Ersten Weltkrieg im Unterschied zu den früheren in Ost-Thrakien fast ausschließlich um Deportationen ins Landesinnere handelte, was unter osmanischen Umständen eine gewollt hohe Zahl von Toten bedeutete. Denn dies hatte die Jungtürken aus den ostthrakischen Deportationen gelernt: Jagte man eine unerwünschte Bevölkerungsgruppe nur einfach über die nächste Landesgrenze, stellte sie sich nach einigen Jahren und unter veränderten politischen Verhältnissen wieder ein. Von den 232.000 griechischen Ostthrakern, die zwischen 1912 bis 1918 zur Auswanderung in das griechische Staatsgebiet gezwungen worden waren, kehrten nach Kriegsende über die Hälfte zurück.
Die jungtürkische Deportationspolitik kannte außer Todesmärschen nur noch eine Alternative: den Bevölkerungsaustausch. Diesen hatte sie bereits 1914 der griechischen Regierung nahegelegt, doch das Projekt scheiterte nicht zuletzt am Widerstand des Ökumenischen Patriarchen. Zehn Jahre und weit über eine Million Tote später war Griechenland verhandlungswillig und niemand mehr in Welt willig oder fähig, das Existenzrecht der osmanischen Griechen in ihrer Heimat zu sichern.
Es wird oft behauptet, dass Pontier zwischen 1914 und 1923 die Option hatten, nach Griechenland zurückzukehren. Ein großer Teil von ihnen entschied sich dennoch im Land ihrer Vorväter in der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres zu bleiben. Ist das Massaker an diese Menschen kein Völkermord, nur weil die Fluchtoption offenstand?
Tesa Hofmann: Ich bezweifele ernsthaft, dass derartige Optionen im fraglichen Zeitraum bestanden. Zwischen November 1914 bis Ende Oktober 1918 war das Osmanische Reich Kriegsgebiet, mit allen Einschränkungen, die dadurch für die Reisefreiheit gegeben waren. Ab Mai 1919 bis zur Einnahme Konstantinopels im Herbst 1922 herrschten auf dem – noch – osmanischen Staatsgebiet während der so genannten Befreiungskämpfe der Kemalisten bürgerkriegsartige Zustände, ganz abgesehen von den Kriegshandlungen zwischen den kemalistischen Irregulären und der hellenischen Interventionsarmee. Nicht zu vergessen, dass der Beitritt Griechenlands in den Weltkrieg und an der Seite der Entente Griechenland zu osmanischem Feindesland machte, in das ein osmanischer Bürger nicht einfach überwechseln durfte, ohne sich des Hochverrats schuldig zu machen. Gleiches galt auch für den Übertritt auf das Staatsgebiet des Russischen Reiches, das im Übrigen nach der Februarrevolution 1917 zu zerfallen begann.
Die zeitgenössische Literatur bietet zahlreiche Beispiele, dass es für Christen, namentlich griechisch-orthodoxe Bürger des Osmanischen Reiches lebensgefährlich war, ihre Wohnorte zu verlassen und viele tatsächlich auf den Wegen zwischen ihrem Dorf und der nächsten Stadt oder Dorf ihr Leben bei Überfällen der Nationalisten verloren. Wenn es Christen – Griechen wie Armeniern – dennoch gelang, im Ersten Weltkrieg auf russisches Staatsgebiet zu flüchten, so war dies mit äußersten Gefahren für Leib und Leben verbunden.
Ganz abgesehen aber von der Frage, ob, wann und wo ein derartiger Übertritt auf griechisches oder russisches Staatsgebiet praktisch möglich gewesen wäre, ist eine Definition von Völkermord absurd, die den Opfern die Schuld an ihrer Vernichtung zuspricht, weil sie nicht die Flucht ins Ausland gewagt haben. Das käme, auf mitteleuropäische Verhältnisse übertragen, der Behauptung gleich, dass die Schoah keinen Völkermord darstellen kann, weil ja Juden aus Deutschland und anderen Staaten bis zu einem gewissen Zeitpunkt sich noch ins Ausland hätten retten können.
Im Sommer 1914 wurde offiziell die sog. „Sonderorganisation“ (türk. Teşkilât-ı Mahsusa) im Kriegsministerium des Osmanischen Reiches aufgenommen. Welche Funktion erfüllte diese Organisation und welche Rolle hat sie im pontischen Völkermord gespielt?
Tesa Hofmann: Die „Sonderorganisation“ ist älteren Datums. Als ein osmanisch-jungtürkischer Geheimdienst ging sie 1911 aus der paramilitärischen Organisation der Fidajin hervor, die wiederum 1906 in Saloniki gegründet wurde; sie diente den Jungtürken nicht nur als Kontraguerilla im Kampf gegen bulgarische Partisanen, sondern dem jungtürkischen Zentralkomitee auch als Todesschwadron zur Vollstreckung von Meuchelmorden. Bereits im Zeitraum 1909 bis 1911 verschwanden in Makedonien und Serbien christliche Führer oder wurden ermordet; die Meuchelmorde und Verfolgungen wurden danach auch auf weniger Prominente ausgedehnt. Während des Tripoliskrieges 1912 erleben wir die „Sonderorganisation“ im Kampf gegen die italienische Armee. Ihre Spezialität waren Sabotage- und Terrorakte hinter den Frontlinien, und genau mit diesen Aufgaben trat sie auch während der Balkankriege hervor. Morde und Massaker an Griechen und Bulgaren gingen auf ihr Konto. 1914 wurde die zunächst dem Verteidigungsministerium unterstellte „Sonderorganisation“ dem Innenministerium unterstellt. In dieser Eigenschaft wurde sie zum Hauptinstrument bei der Vernichtung der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches; die Zahl ihrer Angehörigen schnelle 1915 sprunghaft auf 40.000. Nach der osmanischen Kriegskapitulation von Mudros (30.10.1918) erfolgte die offizielle Auflösung der Teşkilati-Mahsusa und entstand als Nachfolgeorganisation die Karakol (Polizeiwache). Es ist interessant, dass der heutige türkische Staatssicherheitsdienst Milli Istihbarat Teşkilati („Nationale Aufklärungsorganisation“; MIT) auf seiner Webseite die „Sonderorganisation“ als indirekte Vorgängerin nennt [7]
Der „pontische Genozid“ ist Teil des Völkermords an der griechisch-orthodoxen Bevölkerung des Osmanischen Reiches und besteht als solcher aus zwei Etappen: während und nach dem Ersten Weltkrieg. Während der zweiten Phase 1919-1922 waren es vor allem lokal bzw. regional agierende Freischärlerbanden, die so genannten çeteler, die im Dienst und in Absprache mit der abtrünnigen Rebellenregierung unter Mustafa Kemal das Einschüchtern, Vergewaltigen, Brandschatzen und Morden übernahmen. Was die Vernichtung der pontosgriechischen Elite betrifft, so sind vor allem die kemalistischen „Unabhängigkeitsgerichte“ zu nennen, die ab 1920 in Schnell- und Willkürverfahren Massenhinrichtungen anordneten.
Das deutsche Kaiserreich unterstütze die sog. „Spezialorganisation“ mit Geld aus dem Goldhandel. War die Deutsche Militärmission im Osmanischen Reich unter Liman von Sanders über die Massaker an Armeniern, Aramäern/Assyrern und Griechen, die zum größten Teil Bürger des osmanischen Reiches waren, unterrichtet?
Tesa Hofmann: Nicht nur die deutschen Militärbehörden im Osmanischen Reich waren umfassend über die Vernichtungsabsichten des türkischen Bündnispartners informiert, sondern ebenso die Zivilbehörden, namentlich das diplomatische Corps; in fast allen osmanischen Provinzhauptstädten waren deutsche Konsulate vertreten, und dieses dichte Informationsnetz, das dank des deutsch-osmanischen Militärbündnisses ungehindert von Zensurauflagen funktionierte, versorgte das deutsche Auswärtige Amt telegrafisch umgehend mit Informationen. So wussten die deutschen politischen Entscheidungsträger zu jeder Etappe der Deportation der Armenier genau über deren Umfang Bescheid. Sehr früh schon, Anfang Juli 1915, formulierte der deutsche Geschäftsträger zu Konstantinopel, Baron Hans von Wangenheim, die Schlussfolgerung, dass es sich bei den Deportationen der Armenier um keine durch den Krieg bedingte Maßnahme handele, sondern „dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten.“
Deutsche Diplomaten verstanden auch den tödlichen Charakter der Deportationen genau. So telegrafierte der deutsche Vize-Konsul zu Samsun, M. Kuckhoff, am 16. Juli 1916 mit Blick auf die Deportation der Griechen aus dem Gebiet von Sinope und Kastamonu:
„(…) Ausweisung und Ausrottung sind türkisch gleiche Begriffe, denn wer nicht umgebracht wird, verfällt meist den Krankheiten und dem Hungertode.“
Als im Juli 1915 die verbliebene Bevölkerung der fast ausschließlich griechischen Stadt Kydonies (Ionien) deportiert wurde – ein Drittel der griechischen Vorkriegsbevölkerung von 36.000 war 1914 nach Lesbos geflüchtet – besuchte der zweite deutsche Botschafts-Dragoman (Übersetzer), Dr. Schwörbel, im Sommer 1915 zweifach Ionien und fand entlang der Bahnlinie Soma-Pandarma Konzentrationslager mit griechischen Frauen, Kindern und alten Menschen vor, die von der Marmaraküste deportiert worden waren; da sie nicht von der osmanischen Regierung ernährt wurden und keine Arbeit in der Region fanden, war Schwörbels Berichten zufolge die Todesrate unter ihnen hoch.
Welche Maßnahmen wurden zu dieser Zeit vom deutschen Kaiserreich ergriffen, um die genannte Massaker und Todesmärsche einzudämmen?
Tesa Hofmann: Deutsche Diplomaten äußerten bei verschiedenen Anlässen die Befürchtung, dass die osmanischen Griechen dasselbe Schicksal wie die Armenier ereilen würde, sollte Griechenland seine Neutralität aufgeben und an der Seite der Entente eintreten. Dieses Kalkül hinderte allerdings die Jungtürken nicht, im Pontos schon 1916, also vor dem Kriegseintritt Griechenlands (27.06.1917), zu deportieren und sich dabei gegenüber den immer wieder nachfragenden und gelegentlich auch protestierenden deutschen Diplomaten ganz ähnlich wie im Fall der Armenier zu verhalten: also abzustreiten, hinzuhalten, notfalls Versprechungen auf Besserungen oder Erleichterungen zu machen und im Übrigen vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Jungtürken wussten nur zu gut, dass Deutschland das Militärbündnis mit den Osmanen über alle humanitären Grundsätze stellte und wegen der osmanischen Christen nichts aufs Spiel setzen würde.
Sieht man von wirkungslosen Protestnoten ab, haben deutsche Diplomaten und hochrangige deutsche Militärs im Osmanischen Reich letztlich nur eine Beobachterrolle gespielt; die einzige Ausnahme bildete der deutsch-jüdische Kavalleriegeneral Otto Liman von Sanders, der in seinem Befehlsbereich Smyrna die Deportation der Armenier weitgehend – mit Ausnahme von 300 am 13.08.1916 Deportierten – verhinderte; in der Stadt Smyrna lebten damals nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 6.000 bis 20.000 Armenier, in ihrer Umgebung weitere 30.000. Als im selben Jahren der Gouverneur der Provinz Aydın, Rahmi, auch die Deportation der gesamten griechischen Bevölkerung Ioniens anordnete, widersetzte sich von Sanders mit Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amtes erneut diesem Befehl, ebenso wie er Ende 1917 einen erneuten Deportationsversuch der Griechen aus Smyrna verhinderte. Allerdings ordnete Liman von Sanders im April 1917 die „Evakuierung“ der schätzungsweise 12.000 bis 20.000 Griechen von Aivalık (Aivali) an, wegen ihrer angeblich fortgesetzten Spionage und Hochverrat für die Alliierten. Ironischerweise stieß dieser Befehl auf die Kritik des osmanischen Regierungschefs (seit Februar 1917) Talaat, der in seiner neuen Funktion die Mäßigung des zwei Monate zuvor umgebildeten Kabinetts versichert hatte und nun den deutschen Befehlshaber wegen überzogener Maßnahmen kritisierte!
Bekanntlich wurde Liman von Sanders am 3. Februar 1919 von den Briten wegen angeblicher Kriegsverbrechen an Armeniern und Griechen festgenommen und blieb bis zum 21. August 1919 in britischer Haft auf Malta, ohne dass es zu einer Anklageerhebung kam. In seinen schon 1920 veröffentlichten Kriegserinnerungen beklagte er sich bitter über die haltlosen Anschuldigungen gerade aus der griechischen Bevölkerung.
In der Geschichtsforschung ist bis heute die Frage nicht endgültig geklärt, wie groß die Mitschuld oder Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs anzusetzen ist. War Deutschland während des Weltkrieges nur Mitwisser, der die Verbrechen des Bündnispartners billigend hinnahm? Einige der hochrangigen deutschen Militärangehörigen waren persönlich für Deportationsbefehle mitverantwortlich. Auf der anderen Seite haben Wissenschaftler eingewendet, dass die von Deutschland betriebene Bündnispolitik durchaus im Rahmen des damals international Üblichen lag und die Interventionsmöglichkeiten Deutschlands überschätzt würden; der Deutsch-Kanadier Ulrich Trumpener bestritt schon 1968, dass die deutsche Regierung die Armenierverfolgung „angestiftet oder unterstützt“ habe. Deutschland sei lediglich vorzuwerfen, dass es nichts über Vorhaltungen und diplomatische Proteste hinaus unternahm, um die türkische Regierung von ihrer Vernichtungspolitik abzubringen. Es sei überhaupt fraglich, ob energischere Proteste etwas bewirkt hätten: „Im Gegenteil zu dem, was bisweilen behauptet wird, war ein direkter Schutz der Armenier völlig jenseits von Deutschlands Möglichkeiten.“ [8].
Quellen
[1] Vgl. Genocide under the Law of Nations. “The New York Times”, 5 January 1947; Genocide, “The New York Times”, 26 August 1946
[2] Lemkin, Raphael: Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation; Analysis of Government Proposals for Redress. Concord: Carnegie Endowment for Peace, 1944 (Neuausgabe: Clark, New Jersey: The Lawbook Exchange, 2005), S. 79 f.
[3] Memoirs of Halide Edib, 1926; Reprint 2005, S. 333