Sie waren in etlichen Filmen von Theo Angelopoulos als Co-Autor mitbeteiligt. Wie kann man sich eine Co-Autorenschaft unter der Regie von Angelopoulos vorstellen?
Markaris: Als Dramaturg sozusagen, oder als Diskussionspartner. Es wird während der Arbeit am Drehbuch viel und zuweilen auch heftig diskutiert. Die Endfassung des Drehbuchs ist das Produkt dieser langwierigen und ausführlichen Diskussionen nicht nur über das Drehbuch selbst, sondern auch über Politik, Film und Kunst. Das Ziel ist dabei, Klarheit über die Geschichte zu schaffen, die Angelopoulos erzählen möchte, und herauszufinden, wie man die Geschichte am besten erzählen könnte.
Der Film Megalexandros (dt. Alexander der Große) wirft unter anderem die Frage nach dem Unvermögen des Menschen auf, aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen. Ist die Geschichte eine Last, die als solche in den Keller der Vergessenheit gehört oder leitet ihre Unkenntnis den Tod der Identität eines Volkes ein?
Markaris: Es geht nicht um die Geschichte, sondern um die Zukunft. „Alexander der Große“ nimmt die Guerilla und den Terorrismus vorweg. Was wir heute mit der Geiselnahme der FARC im Beispiel von Ingrid Betancourt und anderen Geiseln erleben, genau diese Geschichte erzählt der Film bereits 1980, vor 28 Jahren.
In Griechenland findet in der Öffentlichkeit keine ernsthafte Aufarbeitung der jüngsten Geschichte statt, ohne dass es zu einer ideologischen Pervertierung der geschichtlichen Ereignisse kommt. So weiß man als Bürger sehr wenig über die jüngste Geschichte Griechenlands, sehr wenig über die wirklichen Hintergründen der Militärjunta, die eng mit der Zypernfrage verquickt ist, sehr auch wenig über die Geschichte des Landes zu seinen Nachbarn. Haben Sie auch den Eindruck, dass die Demokratie in Griechenland zu Extremen neigt? Entweder ist sie gänzlich stumm oder sie brüllt.
Markaris: Die Wunden der Nachkriegszeit und des Bürgerkriegs haben eine lange Genesungsperiode erfordert, die noch immer nicht abgeschloßen ist. Die Zeit nach der Militärdiktatur ist die Endphase dieser langen Periode und sie dauert noch an. Dabei hat die Polarisierung in beiden Teilen der Bevölkerung, d.h. sowohl auf dem rechten Spektrum als auch auf dem linken, dazu beigetragen, daß die Hemmungen und Traumata weiter bestehen. Heute löst jede Auseinandersetzung über den Widerstand während der deutschen Besatzung, den Bürkerkrieg und die Zeit nach dem Bürgerkrieg eine starke Kontroverse zwischen Politikern, Historikern und Akademikern aus. In den breiten Schichten der Bevölkerung stoßt sie aber auf fast totale Indifferenz.
Die Gattung „Kriminalroman“ war bis vor kurzem in Griechenland fast unbekannt. Lag es daran, dass es dem Lande an verbrecherischer Energie und krimineller Machenschaften bis jetzt mangelte?
Markaris: Zum Teil ja, aber es ist nicht der eigentliche Grund. Griechen haben ein Schwäche für schwarz-weiß Kriterien. Die Skala der Nuancen war in Griechenland stets sehr begrenzt. So ging es immer um seriöse Literatur versus Unterhaltungsliteratur; seriöse Musik versus leichte Muskik; künstlerisches Theater versus kommerzielles Theater. Warum das Unterhaltsame auch nicht seriös sein könnte, bleibt immer noch eine offene Frage. Nur in den letzten Jahren gelang es dem Kriminalroman sich als literarisches Genre zu etablieren . Das hat vor allem damit zu tun, daß aus dem Kriminalroman mehr und mehr ein Gesellschaftsroman geworden ist.
Oft beschreiben Sie in Ihren Romanen unverhohlen, aber dennoch amüsant, das soziale Gefälle Athens, das Elend der Armen und der Wirtschaftsflüchtlinge. Wie werden die Zuwanderer in Griechenland heute aufgenommen und behandelt? Worin unterscheidet sich die gegenwärtige Einwanderung von derjenigen vor hundert Jahren, als die Griechen Kleinasiens in das „begehrte Heimatland“ zurückkehrten? Wurden sie nicht auf die gleiche Weise behandelt wie die balkanischen und afrikanischen Flüchtlinge heute?
Markaris: Es bestehen Parallelen, die auf die gleichen Ursachen verweisen. Zum einen ist es wahr, daß die griechischen Flüchtlinge, die aus dem Schwarzen-Meer-Gebiet und aus Kleinasien nach Griechenland gekommen sind, von der einheimischen Bevölkerung sehr unfreundlich, ja sogar feindlich aufgenommen wurden. Zum anderen ist es aber auch wahr, daß Griechenland damals ein sehr armes Land war, das seine eigene Bevölkerung kaum ernähren konnte. Heute erleben wir fast ähnliche Zustände. Die Immigranten aus dem Balkan, aus Asien und Afrika werden bestenfalls mit Mißtrauen, schlimmstefalls mit unverhohlener Feindseligkeit behandelt. Andererseits, ist die Zahl der Migranten auf 1.2 Mio gestiegen und macht mittlerweile zwölf Prozent der gesamten Bevölkerung aus. Griechenland verfügt einfach über kein effizientes Netz, um so viele Immigranten aufzunehmen und sie in einigermaßen erträglichen Verhältnissen zu betreuen. Die gute Seite ist, daß die Migranten, die längere Zeit in Griechenland leben, fast total integriert sind, besonders die Albaner. Die albanischen Kinder der zweiten Generation kann man von griechischen Kindern ihres Alters nicht mehr unterscheiden. Zumindest behandelt Griechenland seine Immigranten bei weitem nicht so schlecht, wie es in der letzten Zeit die Italiener tun.
Ich habe den Eindruck, dass in Griechenland anders aussehende und anders denkende Menschen schneller aufgenommen werden als in Westeuropa – und in dieser Hinsicht besteht eine große Chance für die Wirtschaftsemigranten und deren Kinder, in die Gesellschaft integriert zu werden. Die meisten Menschen in Griechenland haben dann aber fast kein Gespür für die Andersartigkeit des Fremden, weil es keine Vorerfahrung mit Emigranten aus anderen Kulturen bis jetzt gab. Was ist Ihre Meinung dazu?
Markaris: Die Frage der Emigration wurde in Griechenland nicht ideologisiert, wie es in manchen anderen Ländern der EU der Fall war. Die Reaktionen der Griechen den Fremden gegenüber werden fast immer von den Gefühlen abgeleitet. Die Griechen sind eine offene Gesellschaft. Es gibt hier wenigere Barrieren als in anderen europäischen Ländern, die ein solides Bürgertum haben, was Griechenland nie besessen hat. Griechenland war bis Mitte der achtziger Jahre eigentlich ein armes Land. So wird für die Armut der Migranten mehr Verständnis aufgebracht, als in anderen reichen Ländern. Vielleicht hängt aber diese Realität auch mit den speziellen griechischen Verhältnissen zusammen, daß nämlich Griechenland stets in seiner Geschichte, vom Altertum bis zu den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, ein Emigranten-Land gewesen ist.
Viele griechische Literaten, Musiker und Philosophen der Neuzeit haben aufgrund der turbulenten geschichtlichen Ereignissen und der politischen Umstände das Land verlassen. Viele von ihnen haben dem Land völlig den Rücken gekehrt (z.B. Jannis Xenakis oder Kornilios Kastoriadis) oder sie lebten zwischen den Welten (wie z.B. Nikos Kazantzakis). Andere wiederum wie z.B. Giorgos Seferis, Odysseas Elytis, Giorgos Ioannou haben das Land nie oder nur kurzweilig verlassen, wählten aber den Weg der inneren Emigration. Was ist die Funktion der Dichter und Denker in einer Gesellschaft und in einer Zeit, die sie verneint?
Markaris: Die Beweggründe waren in jedem Einzelfall andere. Iannis Xenakis und Kornilios Kastoriadis haben das Land nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Xenakis war links. Kastoriadis war ein Trotzkist, der von der offiziellen Linken in Griechenland brutal verfolgt wurde. Nikos Kazantzakis war ein Kosmopolit, ihm war Griechenland einfach zu eng. Seferis arbeitete im diplomatischen Dienst, reiste ununterbrochen, und war zuletzt griechischer Botschafter in London. Elytis stammte aus einer reichen, Industriellen-Familie und verkehrte jahrelang in den Kreisen der Surrealisten in Paris, wie Andreas Empirikos auch. Ioannou war anders. Er war in Griechenland verliebt und arbeitete im Schuldienst. Man kann weder Schlußfolgerungen ziehen noch eine Norm daraus machen. Jeder Dichter und Intellektuelle folgt seinem eigenen Weg. Es gibt kein gemeinsames Ziel, sondern bestenfalls Kontroversen, die sehr produktiv sind.
Sie haben klassische Werke der deutschen Literatur, wie Goethes ‚Faust’ (I und II), sowie Brechts ‚Mutter Courage’ und ‚Das Leben des Galilei’ ins Griechische übersetzt. Aber auch Werke von Peter Weiss, Georg Büchner, Frank Wedekind, Thomas Bernhard und Franz Xaver Kroetz gehören zu ihrem Übersetzungswerk. Sie sind damit einer der wenigen Autoren, der sich in beiden Kulturräumen gut auskennt. Was erschwert gegenwärtig die Intensivierung der deutsch-griechischen Beziehungen, so z.B. im Bereich der Kultur?
Markaris: Nichts. Ganz im Gegenteil, niemals nach dem Zweiten Weltkrieg waren die kulturellen Bezienhungen zwischen Deutschland und Griechenland so intensiv und lebendig wie heute. Es werden weitaus mehr Bücher aus dem Deutschen ins Griechische übersetzt; Deutsche Theaterensembles spielen jeden Sommer in Griechenland. Niemals zuvor lernten so viele Griechen die deutsche Sprache und es gibt immer mehr Veranstaltungen mit griechischen Künstlern und Dichtern in Deutschland.
Was ist Ihre gesellschaftliche und persönliche Utopie heute?
Markaris: Wir leben in einer Zeit, in der das Mittelmaß triumphiert. Solche Zeiten die keine Geschichte produzieren, sondern sie bestenfalls nur noch verwalten, produzieren auch keine Utopien.
Damit eine Kultur aufblüht, braucht sie einen Lebensraum. Gesunde, gut funktionierende Städte bieten beispielsweise einen derartigen Schutzraum an, Städte, die den Menschen das Gefühl vermitteln, sie sind darin gut aufgehoben und ein organischer Teil davon. Griechische Großstädte sind das absolute Gegenteil Was bewegt Sie trotz allem, in Athen weiterzuleben? Ist es schwer, sich vom Objekt Ihrer künstlerischen „Feldarbeiten“ zu lösen?
Markaris: Athen ist für mich eine Art Versuchskaninchen. Ich kann in Athen alles probieren und alles in Frage stellen. Griechenland ist kein Land der Städte. Es ist ein Inselland. Auf den Inseln ist Griechenland am schönsten. Gerade das macht es aber für mich spannend in einer griechischen Metropole zu leben.
Herr Markaris, über wie viele Grenzen müssen Sie heute gehen, um nach Hause zu kommen?
Markaris: Diese Frage sollten Sie eigentlich an Theo Angelopoulos stellen. Grenzen sind sein Lieblingsthema. Auch in seinem letzten Film setzt er sich mit Grenzen auseinander. Da bin ich mit Migranten besser zu Hause. Ich lebe ja in einem Viertel mit vielen Migranten aus dem französisch sprechenden Afrika. Dazu eine kleine Geschichte. Im letzten Sommer, während der großen Hitzewelle konnte ich eines Nachts nicht schlafen. Nur gegen vier Uhr morgens verfiel ich in einen leichten Schlummer. Auf einmal hörte ich einen großen Krach, unten auf der Fußgängerzone, wo ich lebe. Ich sprang aus dem Bett, lief auf den Balkon und schrie: „Habt Ihr denn kein Erbarmen? Und überhaupt woher findet ihr denn die Kraft sich zu streiten in dieser Hitze.“ Da sehe ich ein schwarzes Gesicht, das es sich nach oben wendet und ganz höflich zu mir sagt: „Excusez-moi, monsieur.“ Das finde ich wunderbar.
■ Das Interview führte Kyro Ponte im Februar 2008