πολλῶν δ᾽ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον 
ἔγνω...

Rezensionen

2015

"Der Apfel fiel aus Venus linker Hand" von Kyro Ponte

Rezension von Carsten Drecoll

Die Erzählungen dieses Bandes unterscheiden sich auf den ersten Blick fundamental. Sie spielen zu unterschiedlichen Zeiten, werden von völlig verschiedenen Charakteren durchlebt und kommen in unterschiedlichen erzählerischen Formen daher. Aber sie alle haben auch eine gemeinsame Thematik: das Thema der Krise und der Freiheit, die nicht selten in der Form einer Erlösung erscheint. Zudem hat diese Krise in allen Erzählungen etwas mit Entfremdung, Fremdheit auf dem Weg und schließlich der Heimkehr, dem Nach-Hause-Kommen, zu tun. Das Auf-dem-Weg-Sein, die Migration, spielt stets eine wesentliche Rolle, tatsächlich oder im übertragenen Sinne. Daher bildet der vorliegende Erzählband von Kyro Ponte ein Kaleidoskop von Erfahrungen, die die Krisen des modernen Menschen im heutigen Europa spiegeln, zugleich aber auch die existenziellen Bedingungen menschlichen Seins reflektieren.

So erfährt im Spanien des 16. Jahrhunderts die Künstlerin Byzantia in einer Art Vision vor dem Tode ihr Leben als Weg durch das Leid (Die Anemonen). Im Rückblick wird ihr Leben immer schwerer, je älter, erwachsener sie wird. Ihre Spur ist eine Spur wie aus Blutstropfen, die zu Anemonen werden oder an diese erinnern. Eine geradezu priesterhafte Schar von alten Männern verfolgt sie, aber sie wird von einer Lichtgestalt erlöst und hat etwas Bleibendes hinterlassen: Logothetis, ihren Sohn.

Ähnlich visionsartig ist auch die Schilderung in Happiness Report, der letzten Erzählung des vorliegenden Bandes. Hier erfolgt die Flucht aus der »Verzweiflung einer Winternacht«, begründet durch die Sehnsucht nach Licht, Sonne, dem Streben nach Wissen und Erfüllung. Die Migration führt durch Unsicherheit, Entfremdung, vorbei an Sirenen und Lotophagen. Vage klingt die Migrationserfahrung eines Griechen nach Norden, vielleicht nach Deutschland, mit. Die Rückkehr erfolgt schließlich, die Erinnerung ist noch da und kann nun in Freude verwandelt werden.

In der Klammer dieser beiden visionären Erzählungen gibt es andere, die dem alltäglichen Leben dem ersten Anschein nach viel näher sind: In Der Fehler versucht eine Frau durch eine Schönheitsoperation ihrer Krise zu entkommen, die dem Verdikt Hässlichkeit gleich Verdammnis entsprungen ist. Hier ist das Thema Fremdheit durch eine innere Entfremdung angesprochen. In Gemeinsame Mahlzeiten wird eine Paarbeziehung dargestellt, die von Festhalten und Flucht geprägt ist und vielleicht eine Art Freiheit in den immer wieder versöhnlich eingenommenen gemeinsamen Mahlzeiten bereithält.

Im Konflikt enden zwei Erzählungen, die zeigen, dass es nicht immer eine Heimkehr aus der Entfremdung gibt. Ein streunendes Leben stellt eine Tübinger Katze in Griechenland dar, die heruntergekommen und verwahrlost in Thessaloniki lebt. In der Fremde wird die einst so geliebte Samtpfote von ihrem Besitzer einfach auf die Straße gesetzt, nachdem dieser arbeitslos geworden ist und sie von Marlene in »Merkel« umbenannt hatte. Sie erfährt zwar am Ende eine Art Genugtuung, eine Rache an dem Mann, aber zugleich mündet dies auch in Gewissensbissen, die nur dadurch »glimpflich« enden, dass am Ende nichts Schlimmes passiert ist. In Die Schlüssel wird eine junge Frau im 19. Jahrhundert von ihrer Mutter mit einer Kette aus magischen Schlüsseln gefesselt, die erst gelöst werden, wenn sie sich in das neue Gefängnis einer Ehe begibt. Auch hier werden Heimkehr und Freiheit verwehrt.

Die expliziteste Parabel auf die heutige Krisensituation in Europa erfolgt in dem Märchen Zwei ungleiche Freunde. Ausbeutung entsteht zwischen den Polen der Tüchtigkeit, die nur auf ihren Vorteil bedacht ist, wenngleich sie andere Euphemismen dazu verwendet – nämlich die »Freundschaft« –, und der treuherzigen, fleißigen Selbstaufgabe des Schwächeren. Am Ende bleibt diesem nur noch das Licht, die Sonne als Symbol für die ersehnte Freiheit.

Diese immerhin erscheint am Ende meistens, zumindest am Horizont. Die Möglichkeit der Heimkehr ist – fast – immer da, die Möglichkeit zur Verwandlung in Freude immer gegeben. Trotz allem Verstörenden sind die hier gesammelten Erzählungen also keine rein destruktiven Erfahrungen. Die Heimkehrlegende, der Nostos der Helden, endet versöhnlich.

 

2010

Das letzte Adieu von Vassilis Vassilikos, Aus dem Griechischen von Kyro Ponte

Rezension von Sofia Papadopoulou in "Griechenland Zeitung"

"Das letzte Adieu" von Vassilis Vassilikos erschien 2010 - 31 Jahre nach der griechischen Erstver­öffentlichung - in einer Übersetzung von Kyro Ponte erstmals in deutscher Sprache. In 21 kleinen Kapiteln wer­den in einer "erotischen Kettenerzählung" die Geschichten von mehreren griechischen Paaren erzählt, die durch den Tod auseinander gerissen wurden. Sie spielen zur Zeit der Militärdik­tatur (1967-1974), die zwischendurch immer wieder „durchscheint".
Die Kettenerzählung beginnt in Thes­saloniki und führt über Kanada nach Rom. Eine Witwe versucht, Trost in der Kirche zu finden, weit weg von den weltlichen Dingen, die sie an „ihn" erin­nern. Ein Mann, räumt die Wohnung auf, in der seine verstorbene Geliebte und er 20 Jahre gelebt haben, kann aber keine Ruhe finden

Ein Paar - das sich im italienischen Exil befindet - reist täglich an einen von ihnen geliebten Ort, der sie an Griechenland erinnert. Sie passieren auf ihrem Weg eine Mauer, hinter der sich ein Friedhof befindet, was sie jedoch nicht bemerken. Der Mann erfährt davon erst nach dem Tod seiner Gefährtin. Er „hielt dies für eine böse, ja sogar für eine grausame Ironie des Schicksals eines ebenso grausamen Gottes, dass sie nun genau dort beigesetzt wurde.

Vassilikos erzählt Geschichten über das Alleinsein, über eine glückliche Vergangenheit, den Tod und eine durch ihn geschiedene Liebe, die nicht mehr zurückkehren kann. Der Autor führt den Leser nur langsam an die richtige Zeitebene heran, die es ihm erlaubt zu erkennen, in welchem Abschnitt ihres Schicksals sich die Protagonisten befinden Diese „Suche" wird durch die Namenlosigkeit der Figuren erschwert, die alle nur als „er"' oder „sie" auftreten. Aber gerade deswegen wird die Neugier weiter zu lesen aufrechterhalten. In jedem Kapitel lüftet sich nur ein Teil des Lebens-Geheimnisses. Bald jedoch kann der Leser die Fäden der einzelnen Geschichten zusammenführen. Bei allen hat es den Anschein, als bliebe in ihnen die Zeit stehen im endlosen Schmerz. Doch wie die Protagonisten weiß auch der Leser, dass die Zeit stetig voranschreitet, ganz leise und ganz langsam, unermüdlich dem Tod entgegen Das Buch endet so abrupt, wie auch die Menschen in ihm aus dem Leben geschieden sind. Der Leser wird plötzlich allein gelassen mit seinen Gedanken Genau wie die einsamen Seelen nach dem letzten Adieu eines geliebten Menschen.

 

Rezension von Heidi Jovanovic in "Griechenland erleben" 

Eine Lektüre, die auf die Zeit des Totengedenkens hinführen und sie begleiten kann, handelt sie doch immer wieder von Abschied und Trauer, ebenso sehr jedoch von der Liebe.
Dreißig Jahre nach der griechischen Erstveröffentlichung ist 2010 der Erzählband “Das letzte Adieu” des bedeutenden griechischen Autors Vassilis Vassilikos ( exakter aus der griechischen Schrift transkribiert als Vasilis Vasilikos ) endlich auf Deutsch erschienen.
Kettenerzählung steht unter dem Titel. Doch viel weniger Glieder einer Kette als vielmehr Fäden eines Gewebes sind die einundzwanzig Geschichten des Buchs – Fäden eines zauberhaften Gespinsts aus Rückblenden, Erinnerungen und immer wieder auftauchenden Motiven. Leitmotive sind tiefe, reine Liebe und Abschied, Tod. Eines von beiden steht im Zentrum aller Geschichten, meist beide zusammen. Fast nie haben die Liebenden einen Namen. Sie sind einfach Er und Sie. Manchmal erkennt man die gleichen Protagonisten an verschiedenen Orten und in verschiedenen Situationen wieder – Künstler im Exil, sie mit langer, schwarzer Haarpracht. Dann wieder sind es andere Paare, um die es sich handelt. Handlungsorte sind europäische und kanadische Großstädte und griechische Landschaften. Wie zu erwarten von dem 1934 geborenen, politisch engagierten Autor, der während der griechischen Diktatur selbst viele Jahre im Exil verbracht hatte, fallen – teils raffiniert verschlüsselt – Anspielungen auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Land. Fußnoten sorgen dafür, dass sie auch von Nichtgriechen verstanden werden. Auch die eingestreuten Zitate aus griechischen Liedern und Gedichten werden erläutert. So vermittelt der Erzählband auch Hintergrundverständnis und versetzt den Leser in die Lage, die Herangehensweise des Autors an die großen, alle Menschen bewegenden Themen Liebe und Tod als eine von griechischer Kultur und Geschichte geprägte zu erkennen.

 

Horst Möller in Hellenica: Jahrbuch für griechische Kultur und deutsch-griechische Beziehungen, Münster 2010, S. 171

Den Fotos zufolge muss es am 1. April 2009 auf der vom Institut français d’Athènes organisierten Soirée sehr launig zugegangen sein. Versammelt hatte sich ein großes Publikum, darunter viel Prominenz: Staatspräsident Papoulias, Altpräsident Sartzetakis, Irini Pappas, Maria Farantouri, Mikis Theodorakis, Costa Gavras, Vassilis Vassilikos. Der Film „Z“ hatte 40jähriges Jubiläum. „Z comme Zero“ hatte vormals Yves Montand, Hauptdarsteller neben Jean-Louis Trintignant, über diesen Filmtitel gelästert. Und doch war ein Aristourjima, ein Welterfolg, entstanden, in Cannes und mit Oscars preisgekrönt. Was ursprünglich nach der gleichnamigen Romanvorlage von Vassilis Vassilikos über den Mord am Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis (am 22. Mai 1963 in Saloniki) unter der Bedrängnis durch die „Choleraepidemie“ der Jahre 1967 bis 1974 als Politthriller gegolten hat, wird nunmehr als zeitloses Gleichnis dafür wahrgenommen, dass Demokratie weltweit eine äußerst fragile Veranstaltung darstellt.

Der Roman „Z“ war 1968 auf Deutsch in der Übersetzung von Vangelis Tsakiridis erschienen, zwei Jahre nach der Originalausgabe des Athener Verlags Themelio. Wurde bis dahin die zeitgenössische griechische Prosaliteratur hierzulande weitgehend für provinziell und traditionsgebunden gehalten, rückte der damals 35jährige Vassilis Vassilikos nun schlagartig als ein Autor europäischen Formats ins Blickfeld. Seiner bereits davor ins Deutsche übersetzten „Griechischen Trilogie“ folgten der Roman „Die Fotografien“, einzelne Erzählungen in Anthologien sowie in kurzen Abständen weitere Ausgaben des Romans „Z“. Mag sein, dass dieses eine Buch unseren Zugang zu weiteren Werken (ins Englische sind bereits übersetzt „The Coroner’s Assistant“, „K“, die Kurzgeschichten „And Dreams are Dreams“, die fiktionalisierte Autobiographie „The few things I know about Glafkos Thrassakis“) verstellt hat. Das ist zu bedauern, wie die jetzt, einunddreißig Jahre nach der Originalausgabe erschienene Übersetzung von „Das letzte Adieu“ erweist. Von der Fragilität des Seins handeln auch diese miteinander verflochtenen Kurzgeschichten. Anders als in seinem berühmten Roman spürt Vassilikos hier allerdings den Zerbrechlichkeiten nicht der Außen-, sondern der Innenwelt nach. Worum geht es in der titelgebenden Geschichte? Beschrieben wird, dass zwischen Ihr und Ihm eine tiefe Vertrautheit herrschte, in der das Schweigen eine Art des Redens und den beiden ein „Sprechen mittels der Gefühle“ zu eigen war. Und dennoch quälte ihn nun, nachdem sie zu ihm gekommen war und lediglich gesagt hatte „Lass mich auf deinen Beinen ruhen“, nicht dessen gewahr geworden zu sein, dass ebendieses „Lass mich auf deinen Beinen ruhen“ ihr letztes Adieu gewesen sein soll. Wie lässt sich‘s dann im Nachhinein mit den zu nichts führenden, ausweglosen Selbstvorwürfen fertig werden? Der, über den berichtet wird, gewinnt daraus den Impuls zum Schreiben. Wie er sich eingesteht, läuft das freilich ebenfalls auf vergebliche Mühe hinaus, denn: „Der heutige Grieche hält es nämlich für eine große Schande, ein Buch in seine Hände zu nehmen und zu lesen. Er schämt sich dafür. Er hat Angst, für einen Schwärmer oder einen Trottel gehalten zu werden. - Womit kann ich in diesem Land leben? fragte er sich. Eine derartige Veröffentlichung beschert dem Autor in jedem anderen Land ein behagliches Leben. Und hier…?“, lautet sein deprimierendes Fazit (in „Ihre wahre Geschichte“). - Vassilis Vassilikos hat über lange Jahre im griechischen Fernsehen eine Büchersendung realisiert. Sein „Das letzte Adieu“ ist ein Buch, das für sich selber spricht.